Sonntag, 10. Februar 2019

Gedanken zum Kurleben

Im 19. Jahrhundert entwickelten sich in Europa aus zahlreichen kleinen, unbedeutenden Käffern mit einer schlammigen Heilquelle vornehme Kurbäder. Vor allem der Bau repräsentativer Kurgebäude fällt in diese Zeit. Dazu gehörte u.a. eine Brunnen- und Wandelhalle, in der das zu trinkende Heil­wasser ausgeteilt wurde und wo die Kurgäste beim Trinken witterungsgeschützt flanieren konnten. Denn – wie es damals oft hieß – das Heilwasser wirke am Besten wenn es während des langsamen Umhergehens in kleinen Schlucken getrunken würde. Zur Unterhaltung der Kurgäste spielte dabei häufig ein Kurorchester in einem in den Bau integrierten Veranstaltungsbereich. Natürlich durften auch weitere Veranstaltungsgebäude (mit Ballsaal), ein Kurtheater und ein Spielcasino nicht fehlen. Mit den steigenden Besucherzahlen kamen auch immer mehr nichtadlige Gäste. Nach dem Ende der Monarchie in vielen europäischen Ländern setzte im 20. Jahrhundert ein Trend zur Vulgarisierung ein, sodass sich das Kurgastprofil vom Adel und gehobenen Bürgertum immer mehr auf „Sozial­gäste“ verlagerte, wie die von Krankenkassen eingewiesenen Kurgäste oft genannt wurden. Und anstelle von Tanzbällen gab es in den ehemaligen Ballsälen nun Tagungen und Konferenzen. Diese Tendenz wurde von den Sozialversicherungsträgern verstärkt, indem sie in den Kurstädten eigene Kurkliniken einrichteten. Allerdings wurden die wenigen positiven Auswirkungen dieser Entwick­lung (wie die gestiegene Besucherzahl) auch wieder zunichte gemacht, als kurz vor der Jahrtausend­wende Gesundheitsreformen einen Besucherrückgang bei den Sozialgästen auslösten. Das führte dann nicht selten dazu, dass anstelle des traditionellen Kurbetriebes in Kurmittelhäusern moderne Thermal-Spaßbäder und Wellness-Badelandschaften errichtet wurden, die auch ohne offizielle Krankenkassenkur besucht werden konnten, in der Hoffnung damit wieder mehr Besucher anzu­locken. Die Folge war eine weitere Vulgarisierung der Gästeklientele. Die Situation ist heute so geartet, dass sogar einst noble Kurorte zu besseren Ferienorten mit Spaßbad verkommen sind. Da­mit fällt aber die alte „Sehen-und-gesehen-werden“-Funktion von Kurorten, wie man sie früher auch von Kreuzfahrten kannte, weg.
Der Sinn einer Kreuzfahrt war bekanntlich - neben dem Reiseerlebnis - der gesellschaftliche Kon­takt und ebenjenes Sehen-und-gesehen-werden. Mittlerweile sind Kreuzfahrten jedoch zu einem Massenmarkt verkommen, sodass sich auf den Kreuzfahrtschiffen ein eher durchmischtes Publikum niedrigerer Provenienz tummelt. Neuere Kreuzfahrtschiffe können mehr als 6000 Passagiere auf­nehmen und bieten ein Unterhaltungsprogramm, das an einen Rummelplatz erinnert. Bei Kurorten scheint die Entwicklung in die selbe Richtung zu verlaufen, wenn man die modernen Spaßbäder mit Saunalandschaft und Wellness-Bereich ansieht.
Der Snob muss nun einen Schritt zurück treten und die Dinge aus der Distanz betrachten. Bietet ein Kurort nicht mehr die gesellschaftlichen Möglichkeiten vergangener Zeiten, dann gibt es einen Grund weniger dort hinzufahren. Was dann übrig bleibt, ist das Kurambiente, bestehend aus impo­santen (teils zweckentfremdeten) Kurbauten, Parklandschaften, Freizeitangeboten, (nicht mehr ganz so) gehobener Hotellerie und Gastronomie sowie Luxusgeschäften. Der eigentliche Zweck eines Kurortes wird darüber schnell vergessen: Die Nutzung der ortsgebundenen Heilmittel des Bodens. Aber genau darum geht es! Man sollte sich folglich wieder auf das Wesentliche besinnen.
Um die ortsgebundenen Heilmittel des Bodens zu nutzen, braucht man keine imposante Architektur oder gehobene Hotellerie. Eine Beschränkung auf das Nötige ist daher angebracht. Was also benö­tigt man für eine Kur? Selbstverständlich das Heilmittel, in der Regel eine Heilquelle (seltener eine Fangogrube), und einen Ort, wo dieses Heilmittel zur Anwendung kommt. Bei Trinkkuren reicht ein Brunnen; bei Badekuren muss es ein Badebecken o.ä. sein. Als Unterkunft wäre eine rustikale Pen­sion und als gastronomische Anlaufstelle ein ebenso rustikaler Landgasthof denkbar (Gasthof mit Pension ginge natürlich auch). Eine angenehme Landschaft wäre schon wichtig und ein paar Frei­zeitmöglichkeiten wären nicht zu verachten, aber auf alles andere kann man getrost verzichten. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass die Kosten einer solchen „Basis-Kur“ erheblich unter denen liegen, die ein Aufenthalt in einem gehobenen Kurort verursacht.
Ein Kurort ohne gehobene Kureinrichtungen, eine Unterkunft in einer rustikalen Pension und eine Heilquelle ohne Brunnenhalle erweckt Assoziationen an die Vorläufer der Kurorte: Die Wildbäder, naturbelassene Badestellen an Seen, Flüssen oder eben Heilquellen. Das heißt natürlich nicht, dass man wieder zu den teils recht abenteuerlichen Zuständen der Anfangszeit zurückkehren sollte. Man werfe an dieser Stelle einen Blick auf das Alte Bad Pfäfers im St. Galler Rheintal (Schweiz): Die Heilquelle entspringt tief unten in der Taminaschlucht und ist seit dem Mittelalter bekannt. In den Anfangsjahren wurden die Kurgäste in Körben in die Schlucht abgeseilt. Um 1718 wurde der Kur­betrieb an den Eingang der Schlucht in das damals neu errichtete Bad Pfäfers verlegt, welches bis zu 500 Kurgäste beherbergen konnte. Erst 1840 wurde das Wasser in einer Rohrleitung nach Bad Ragaz geführt, wodurch dieser Ort zum Heilbad wurde. Es gibt heute wohl kaum einen Kurgast der der Zeit hinterher trauert, als die Gäste noch in die Schlucht abgeseilt wurden.
Aber auch wenn an leichter erreichbaren Quellorten inzwischen das Baden außerhalb dafür vorge­sehener Einrichtungen verboten und somit der Weg zurück zum Wildbad versperrt ist, ist eine Bade­kur in einem einfachen Badebecken ein Schritt in die richtige Richtung. Das gilt sogar wenn das Becken in eine moderne Badelandschaft eingebettet ist, zumal es sonst ohnehin keine Alternative gibt. Folglich nutzt auch ein Snob die modernen Thermal-Badelandschaften.
Wie aber kann man das Fehlen des gesellschaftlichen Lebens, wie man es in einem Kurort des 19. Jahrhunderts vorfand, kompensieren? Die (vergleichsweise einfache) Antwort darauf liefert das Internet: Eine Notiz bei Facebook, ein paar Fotos bei Instagram oder ein Twitter-Tweet und schon erfährt es die Welt.

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