Freitag, 21. Juni 2019

Die Veränderung des Kurlebens

Im späten 19. Jahrhundert kam die Trinkkur in Mode (bis dahin hatte die Badekur dominiert). Das Kurpublikum bestand damals vorwiegend aus Adligen und Großbürgern und wünschte seine Kur in einer geeigneten Umgebung durchzuführen. Folglich entstand das, was man landläufig als Kurar­chitektur bezeichnet. Die mehrmals täglich durchgeführte Trinkkur folgte einem gewissen Schema. Da das Heilwasser in kleinen Schlucken getrunken werden sollte, wurde empfohlen während des Trinkens umher zu flanieren. Dafür benötigte man einen Kurpark und bei schlechtem Wetter eine Wandelhalle. In letzterer erfolgte meist auch der Ausschank des Wassers durch sog. Brunnenmäd­chen, die die Anwendungen in ein Kontrollbuch eintrugen. Sie verwalteten auch das jeweilige mit einer Nummer versehene Trinkglas des Kurgastes, so dass dieser immer sein eigenes Glas benutzen konnte. Für die Kurgäste stand in unmittelbarer Nähe der Trinkbrunnen ein gut bestückter Lesesaal mit internationalen Zeitungen zur Verfügung und im Musikpavillon spielte während der Trinkzeiten das Kurorchester. Oft waren Lesesaal und Musikpavillon baulich in die Wandelhalle integriert. Ein wichtiger Aspekt der Kur war – neben der Gesundheitspflege - die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, das Sehen-und-gesehen-werden.
Heute dagegen findet man ein derartiges Kurszenario nur noch in ganz wenigen Kurorten vor. Nach dem Niedergang von Monarchie und Adel und nach den Gesundheitsreformen der 1990er Jahre hat sich vieles geändert. In vielen Kurorten gibt es heute keinen organisierten Heilwasserausschank mehr. Nur die älteren Traditionsbäder halten noch daran fest. Der Trinkbrunnen ist oft frei zugäng­lich und ein Trinkgefäß muss man selbst mitbringen. Damit fällt in kleineren Bädern abermals auch das Kurorchester weg, das in der populären Musik einst eine bedeutende Rolle gespielt hat (in der BRD gibt es noch etwa zwei Dutzend Kapellen, die vorwiegend aus osteuropäischen Musikern be­stehen; das mit 13 Musikern größte Kurorchester leistet sich derzeit noch Bad Kissingen). Stattdes­sen werden aber nun Gastauftritte von Blaskapellen oder Salonensembles, Jazz- und Swingkonzer­te, Chorauftritte und manchmal sogar Aufführungen von Philharmonie-Orchestern organisiert. In einigen Bädern gibt es auch Theatervorstellungen, Comedy oder Musicals. Die Konzertmuschel im Kurpark ist dort schon lange durch den Veranstaltungssaal verdrängt worden. Zwar ist ein reichhaltiges, kultu­relles Angebot durchaus lobenswert, jedoch gerät das Kurkonzert dadurch immer mehr ins Hintertreffen. Und anstelle eines gut bestückten Lesesaals gibt es jetzt gratis WLAN. Damit verlagert sich natür­lich auch das Sehen-und-gesehen-werden ins Internet, denn mittels WLAN und Smartphone kann man nun ganz einfach Selfies auf seine Facebookseite stellen oder bei Instagram posten, die einen beim Trinken des Heilwassers zeigen. Ein gesellschaftliches Leben vor Ort braucht man nun nicht mehr.

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