Im späten 19. Jahrhundert kam die
Trinkkur in Mode (bis dahin hatte die Badekur dominiert). Das
Kurpublikum bestand damals vorwiegend aus Adligen und Großbürgern
und wünschte seine Kur in einer geeigneten Umgebung durchzuführen.
Folglich entstand das, was man landläufig als Kurarchitektur
bezeichnet. Die mehrmals täglich durchgeführte Trinkkur folgte
einem gewissen Schema. Da das Heilwasser in kleinen Schlucken
getrunken werden sollte, wurde empfohlen während des Trinkens umher
zu flanieren. Dafür benötigte man einen Kurpark und bei schlechtem
Wetter eine Wandelhalle. In letzterer erfolgte meist auch der
Ausschank des Wassers durch sog. Brunnenmädchen, die die
Anwendungen in ein Kontrollbuch eintrugen. Sie verwalteten auch das
jeweilige mit einer Nummer versehene Trinkglas des Kurgastes, so dass
dieser immer sein eigenes Glas benutzen konnte. Für die Kurgäste
stand in unmittelbarer Nähe der Trinkbrunnen ein gut bestückter
Lesesaal mit internationalen Zeitungen zur Verfügung und im
Musikpavillon spielte während der Trinkzeiten das Kurorchester. Oft
waren Lesesaal und Musikpavillon baulich in die Wandelhalle
integriert. Ein wichtiger Aspekt der Kur war – neben der
Gesundheitspflege - die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, das
Sehen-und-gesehen-werden.
Heute dagegen findet man ein derartiges
Kurszenario nur noch in ganz wenigen Kurorten vor. Nach dem
Niedergang von Monarchie und Adel und nach den Gesundheitsreformen
der 1990er Jahre hat sich vieles geändert. In vielen Kurorten gibt
es heute keinen organisierten Heilwasserausschank mehr. Nur die
älteren Traditionsbäder halten noch daran fest. Der Trinkbrunnen
ist oft frei zugänglich und ein Trinkgefäß muss man selbst
mitbringen. Damit fällt in kleineren Bädern abermals auch das
Kurorchester weg, das in der populären Musik einst eine bedeutende
Rolle gespielt hat (in der BRD gibt es noch etwa zwei Dutzend
Kapellen, die vorwiegend aus osteuropäischen Musikern bestehen;
das mit 13 Musikern größte Kurorchester leistet sich derzeit noch
Bad Kissingen). Stattdessen werden aber nun Gastauftritte von
Blaskapellen oder Salonensembles, Jazz- und Swingkonzerte,
Chorauftritte und manchmal sogar Aufführungen von
Philharmonie-Orchestern organisiert. In einigen Bädern gibt es auch
Theatervorstellungen, Comedy oder Musicals. Die Konzertmuschel im
Kurpark ist dort schon lange durch den Veranstaltungssaal verdrängt worden. Zwar
ist ein reichhaltiges, kulturelles Angebot durchaus lobenswert,
jedoch gerät das Kurkonzert dadurch immer mehr ins Hintertreffen. Und
anstelle eines gut bestückten Lesesaals gibt es jetzt gratis WLAN.
Damit verlagert sich natürlich auch das
Sehen-und-gesehen-werden ins Internet, denn mittels WLAN und
Smartphone kann man nun ganz einfach Selfies auf seine Facebookseite
stellen oder bei Instagram posten, die einen beim Trinken des
Heilwassers zeigen. Ein gesellschaftliches Leben vor Ort braucht man
nun nicht mehr.
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